Harald Bodenschatz
Veröffentlicht in: Planerin 3/2001
Die Alternative zwischen „Europäischer Stadt“ und „Zwischenstadt“ ist eine Sackgasse, die in die Irre führt und die Fachwelt lähmt. Wohlgemerkt: das Beharren auf einer Alternative, auf dem Entweder Oder. Das impliziert oft eine verbale Entsorgung der städtischen Zentren auf der einen Seite wie auch eine strategische Vernachlässigung von Suburbia auf der anderen Seite.
Suburbia ist eine Realität, und wir wären blind, würden wir diese Realität übersehen. Und doch: Betrachten wir unsere Fachzeitschriften, unsere Fachdebatten, unsere Universitäten, so finden wir dort wenig über die Merkmale, die Hintergründe und die Perspektiven von Suburbia. Thomas Sieverts hat zurecht auf diesen Missstand hingewiesen. Die kompakte Stadt hat ihr Korsett verloren, und wir werden es nicht mehr schaffen, dieses Korsett zu rekonstruieren, selbst wenn wir das wollen. Suburbia hat eine Zukunft, aber vielleicht nicht das Suburbia, das wir bislang kennen. Denn Suburbia ist keineswegs das Produkt eines naturwüchsigen Prozesses, sondern wird wesentlich durch politische Rahmensetzungen geprägt. Erinnert sei nur an die gewaltigen Subventionen für den Einfamilienhausbau und das private Auto. „Die direkte und indirekte, d.h. steuerliche Wohnungsbauförderung, ca. 50 Mrd. DM im Jahr, bevorzugt deutlich den billigen Standort an der Peripherie. Für die Gewerbeinvestition gilt dasselbe.“ Ihre Konsequenz: „Die direkte und indirekte steuerliche Förderung des Wohnungs- und Gewerbebaus an der Peripherie auf Freiflächen außerhalb des Siedlungsstrang muss unterbleiben.“ (Christiane Thalgott in DAB 2/2000, S. 123) Wie weit wir von diesen Subventionen schon abhängig sind, ist uns in letzter Zeit vor Augen geführt worden – etwa beim Streit über die Höhe des Benzinpreises und die Ökosteuer. Die Konflikte über die Subventionierung von Suburbia werden in Zukunft zunehmen. Hier geht es also nicht nur um räumliche Gestaltung, sondern vor allem auch um die politische Gestaltung des Entwicklungsrahmens. Suburbia muß perspektivisch seinen Preis kosten.
Aber was wird mit den Zentren unserer Großstädte passieren? Wird es keine Zentren mehr geben? Wird Suburbia die europäische Stadt zersetzen? Diese Ängste sind völlig überzogen. Die Zentren der großen Städte sind längst in einem Prozeß des Umbaus begriffen, und dieser Umbau wird dazu führen, dass sie mehr und mehr zum Zentrum einer suburbanen Landschaft werden. Natürlich sind sie dann nicht mehr jene Zentren, wie wir sie noch gekannt haben. Sie werden zu einem symbolischen Zentrum, in dem sich die Suburbaniten zuhause fühlen; zu einem Ort besonderer Gebäude, die eine wenig aufregende suburbane Landschaft dringend benötigt; zu einem Ort besonderer Geschichte, die eine geschichtslose suburbane Landschaft braucht; zum Ziel des Tourismus, und zwar nicht nur des weltweit wachsenden Ferntourismus, sondern vor allem auch des suburbanen Lokaltourismus; zu einem Ort, wo Kultur, Massenunterhaltung, spezifische Waren nachgefragt werden; zu einem Ort, in dem sich ausgewählte Institutionen der Produktion von Wissen, der Entscheidung und Kreativität konzentrieren; zu einem Ort, an dem manche Leute gerne wohnen, auch alte Menschen.
New Urbanism – eine Strategie für die Regional City
Während die deutsche Diskussion durch eine Polarisierung zwischen „Europäischer Stadt“ und „Zwischenstadt“ gelähmt wird, hat sich in den USA eine Städtebaureformbewegung herausgebildet, die diese Polarisierung bereits in Frage gestellt hat: die Bewegung des New Urbanism. Ihr Hintergrund ist eine massive Kritik an der Zersiedelung der USA, die nicht mehr als Umsetzung des American Dream gefeiert wird, sondern als Gefahr für die amerikanische Gesellschaft erscheint. Sich über Suburbia negativ zu äußern, gehört inzwischen zum guten Ton.
Was sind aber die Antworten des New Urbanism? Bessere Suburbs und bessere Stadtzentren! New Urbanism zielt auf eine Nutzungsmischung, eine soziale Mischung, eine größere bauliche Dichte, eine architektonische Vielfalt. Das erinnert schon sehr an das Programmpaket der Europäischen Stadt! New Urbanism orientiert sich an historischen Stadtgrundrissen und an der regionalen Architekturtradition. Er fordert Fußgängerfreundlichkeit, die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs, die Reduktion des Autoverkehrs. Ein an den Prinzipien der historischen Stadt orientierter Städtebau, so die Annahme, dient dem Kampf gegen den Zerfall der Gesellschaft.
Die neue Bewegung befindet sich erst im Experimentierstadium, ihre gebauten Experimente sind umstritten. New Urbanism ist zunächst ein Produkt des Wirtschafts- und Baubooms der 90er Jahre. Durch den Film Truman Show ist etwa Seaside bekannt geworden, eine kleine Modellstadt in Florida. Gebaut werden aber nicht nur neuartige Suburbs. New Urbanism zielt auch auf die Erneuerung der Innenstädte, vor allem der Downtowns, der Stadtzentren also. Nicht die polarisierende Entgegensetzung von Innenstadt und Suburbia, sondern eine übergreifende Sichtweise ist für den New Urbanism typisch. New Urbanism hat sich zum Ziel gesetzt, die gesamte Stadtregion zu qualifizieren – Downtown und Suburbia, nicht Downtown oder Suburbia. Ziel ist eine städtebaulich qualifizierte Regional City, ein Konzept, das eine relativ starke öffentliche Hand zur Voraussetzung hat.
New Urbanism und die deutsche Stadtplanung
Was bedeutet nun der New Urbanism für die stadtplanerische Diskussion bei uns? Eine schwierige Frage! Oder genauer: ein ganzes Paket von schwierigen Fragen. Ich möchte mich auf einige Argumente in Thesenform konzentrieren:
1. These: New Urbanism ist eine programmatische Bewegung. Sie wird durch die Vision einer besseren Stadt und die Kritik der vorhandenen Stadt zusammengehalten. Wie jede Bewegung bedarf sie eigener Prinzipien mit einer großen Flexibilität. Damit diese Prinzipien nicht erstarren, ist eine permanente Diskussion und Verfeinerung der Prinzipien notwendig. Die Bewegung des New Urbanism hat sich dafür eine besondere Organisationsform geschaffen: den Congress for the New Urbanism, der jährlich stattfindet. Wir haben in Deutschland keine vergleichbare programmatische Bewegung.
2. These: New Urbanism ist eine praktische Bewegung, die mit dem Instrument Best Practice arbeitet. Aber nicht nur. Die ersten Projekte haben Experimentalcharakter und werden erstaunlich nüchtern analysiert und kritisiert. Dafür hat sich eine Kultur der Verarbeitung von Erfahrungen konsolidiert. In Deutschland ist eine solche Kultur noch nicht hinreichend entwickelt. Sicher – es gibt wertvolle Ansatzpunkte, vor allem die Initiativen des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, aber auch das Einzelengagement etwa von Andreas Feldtkeller und Tom Sieverts. Natürlich haben auch wir zahlreiche Kandidaten für Best Practice, auch in Ostdeutschland. Ich nenne nur ohne jeden systematischen Anspruch Marga, Piesteritz, das Zentrum von Leipzig. Doch sie sind zu wenig im Gespräch. Und wie es um die Verarbeitung von Erfahrungen steht, zeigt der Fall Potsdam Kirchsteigfeld. Statt einer Verarbeitung erleben wir eher ein fröhliches Weiterleben des Schubladendenkens. Oder das interessante Beispiel des neuen Zentrums von Eggersdorf. Wer kennt das aber schon? Uns fehlen Medien der Herausbildung von Best-Practice-Kandidaten und Medien einer Verarbeitung von Experimenten.
3. These: New Urbanism impliziert eine differenzierte Kritik an der suburbanen Entwicklung, insbesondere an deren Einflußfaktoren. In England und in den USA ist das Wissen um Suburbia, dessen unterschiedliche Facetten und dessen Geschichte bereits sehr ausdifferenziert. Nicht so bei uns: Obwohl die Suburbanisierung auch die deutschen Städte seit den 60er Jahren überrollt hat, ist das Niveau der kritischen Auseinandersetzung bei uns noch sehr unterentwickelt.
4. These: New Urbanism festigt die Position der räumlichen Planung. Auf regionaler, gesamtstädtischer und Stadtteilebene wird die Bedeutung einer qualifizierten Planung unterstrichen, die Notwendigkeit, qualifizierte Fachleute zu beauftragen. Stadt- und Regionalplanung gewinnt vor diesem Hintergrund in den USA wieder an Ansehen – trotz privaten Städtebaus, trotz einer relativ schwachen öffentlichen Hand.
5. These: New Urbanism impliziert eine Integration von Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung. Jedes Projekt für eine New Town oder eine Innenstadtrevitalisierung umfaßt von vorneherein all diese drei Dimensionen der Gestaltung. Das bedeutet nicht die Infragestellung der einzelnen Disziplinen, aber eine höhere Kommunikationsbereitschaft und –fähigkeit als bisher üblich. Auch hier gibt es bei uns Verbesserungsbedarf.
6. These: New Urbanism ist eine organisierte Bewegung, die nicht nur planerische Fachleute, sondern auch Politiker, Wirtschaftsfachleute, Aktivisten von ökologischen und sozialen Bewegungen umfaßt. Damit wird die Bedeutung einer Organisation unterstrichen, die nicht berufsständisch, sondern programmatisch orientiert ist, die nicht nur planerische Fachleute, sondern auch andere Personen umfaßt. Damit planerische Fachleute in einer solchen Rolle ihren Part spielen können, bedarf es nicht nur einer fundierten interdisziplinären Ausbildung, sondern auch einer hohen Bereitschaft zur Kommunikation mit Nicht-Fachleuten. Insbesondere bedarf es einer neuen Form der Öffentlichkeitsarbeit. Bei uns ist eher das Gegenteil der Fall: Distanzhalten zu anderen Disziplinen, Distanzhalten zu anderen Initiativen, Naserümpfen. So können keine Koalitionen geschmiedet werden. Wir müssen das Gespräch aktiv suchen – auch mit Developern, auch mit oft ungeliebten Initiativen wie etwa den Historischen Vereinen in Berlin und Dresden.
7. These: New Urbanism impliziert eine ständige Überprüfung des planerischen Instrumentariums. Die wichtigsten Instrumente sind vorerst der Masterplan, der Urban Code und das Charette-Verfahren. Ein erneuerter Masterplan muß als Form des Planes neben anderen wieder ins Recht gesetzt werden. Beim Verfahren spielt nicht der Wettbewerb, sondern die Städtebauwerkstatt eine Schlüsselrolle. Auch in Deutschland gibt es umfangreiche Erfahrungen mit Städtebauwerkstätten, die aber bislang nicht systematisch verarbeitet worden sind.
8. These: New Urbanism impliziert eine besondere Berücksichtigung der historischen Dimension des zu beplanenden Ortes. Dafür bedarf es solider, systematischer Kenntnisse der Städtebaugeschichte wie der Stadtplanungsgeschichte. In den USA sind erste Grundlagen dafür gelegt, es bleibt aber vieles zu tun. In Deutschland sind zwar grundlegende Kenntnisse im Prinzip vorhanden, es fehlt aber an einer hinreichenden Vermittlung. Dafür bedarf es vor allem an den Universitäten großer Anstrengungen. Städtebau- und Planungsgeschichte hat an deutschen Hochschulen keinen festen Platz, sondern nur einen temporären, abhängig von den jeweiligen Hochschullehrern. Eine Hochburg der Planungsgeschichte war bekanntlich die RWTH Aachen, aber mit dem Abgang von Prof. Gerhard Fehl ist dieses Arbeitsfeld dort wieder geschrumpft. Planungsgeschichte ist bis heute kein prägendes, systematisches Fach in den deutschen Planerstudiengängen. Wir brauchen aber eine Planungsgeschichte, die nicht nur ein bisschen Folklore liefert, bevor man zum Eigentlichen kommt, sondern ein Fach, das in den planerischen Entwurf eingebunden ist.
9. These: New Urbanism ist keine Stilbewegung, sondern eine Bewegung mit explizit gesellschaftspolitischen Zielen. Sie bedarf einer qualifizierten, praxisbezogenen sozialwissenschaftlichen Begleitung. Dabei muß die Auseinandersetzung mit den Lebensstilen der Mittelschichten eine wichtige Rolle spielen, insbesondere mit dem zunehmenden Bedürfnis dieser Schichten nach symbolischen Figuren und Orten, die historisch aufgeladen sind. Da diese Schichten angesichts abnehmender staatlicher Ressourcen auch bei uns die Nachfrage stärker bestimmen werden, werden die Konsumstile dieser Nutzer der Stadt stärker berücksichtigt werden müssen. Gleichzeitig muß aber verstärkt die Verantwortung der Mittelschichten für eine Politik gegen die Abkoppelung sozial benachteiligter Gruppen in sozialer wie räumlicher Hinsicht thematisiert werden.
10. These: New Urbanism, das muß nochmals betont werden, verzichtet auf eine konfrontative Gegenüberstellung von Suburbia und Innenstadt. Das heißt aber nicht: Verzicht auf einen Gestaltungsanspruch, d.h. auch nicht: Verzicht auf den Streit, wo die Schwerpunkte gesetzt werden sollen, und wie die jeweiligen Räume gestaltet werden sollen. Eine solche Auseinandersetzung um Schwerpunkte ist fruchtbar, eine Polarisierung in Richtung Entweder Oder nicht. Wir können natürlich auch diese Streitkultur nicht einfach übernehmen. Unsere Innenstädte wie unser Suburbia unterscheiden sich von den Verhältnissen in den USA, das gleiche gilt für die Akteure. Wir brauchen eine eigenständige Debatte auch in dieser Frage.
Nicht nur die europäische Stadt unterscheidet sich von der amerikanischen Stadt, und nicht nur die Akteure hier in Deutschland unterscheiden sich von denen in den USA. Auch die Trends der Stadtentwicklung sind unterschiedlich, und die europäische Stadtplanungsdebatte unterscheidet sich ebenfalls von der amerikanischen. Das heißt aber überhaupt nicht, dass gegenseitige Lernprozesse ausgeschlossen sind. Im Gegenteil! Aber Vorsicht: Die übliche deutsche Haltung, nur die Amerikaner könnten etwas von uns lernen, aber niemals umgekehrt, ist doch ein wenig in Frage zu stellen.