von Christian Marx und Thorsten Schauz
Inmitten der Junihitze finden sich dreißig Studierende auf einer sandigen Halbinsel ein und schlagen ihre Zelte am Ufer eines gefluteten Tagebaus im Schatten eines dreißig Meter hohen Schaufelradbaggers auf.
Darunter sind Studierende der Landschaftsplanung aus Berlin, der Stadtplanung und Architektur aus Cottbus, der Raumplanung aus Dortmund sowie die mitgereisten Betreuerinnen und Betreuer. Für knapp vier Tage ist die Baggerstadt Ferropolis Schauplatz für eine studentische Charrette, für ein kooperatives Planungsverfahren, das sich mit der Zukunft eben dieses Ortes – Ferropolis – auseinandersetzt.
Ferropolis – Stadt im Industriellen Gartenreich
Ferropolis, Stadt im „Industriellen Gartenreich“ zwischen Dessau, Bitterfeld und Wittenberg wurde 1995 im Rahmen des vom Bauhaus entwickelten regionalen Langzeitprojektes gegründet. Fünf Absetzer, Schaufelrad- und Eimerkettenbagger fanden auf einem stillgelegten Industrieareal inmitten des ausgekohlten Tagebaus Golpa-Nord nahe Gräfenhainichen ihre letzte Ruhestätte. Als Ensemble wurden sie um eine Arena versammelt und so zum Werbeträger der EXPO 2000-Korrespondenzregion.
Ferropolis ist heute Museum und Mahnmal, Stahlskulptur und Veranstaltungsareal für jährlich mehrere Großkonzerte. Die Besucherzahlen veranschaulichen eine nicht geringe Ausstrahlungskraft in die Region: 40.000 Tagesbesucher und mindestens noch einmal so viele Konzertbesucher kamen allein im letzten Jahr. Der Ausbauzustand wird dem derzeit jedoch kaum gerecht; die Herstellung der Begehbarkeit der Großgeräte, die Sanierung der Tagesanlagen und der Ausbau der technischen Infrastruktur beginnen erst.
Eine Stadt wird weiterentwickelt
Bereits im Jahr 2002 hat daher eine Planer-Charrette in Ferropolis stattgefunden, die unter der Leitung von Dr. Harald Kegler (Wittenberg) und Thies Schröder (Berlin) sowie unter Beteiligung von Planern und Ingenieuren aus Berlin und Gräfenhainichen einen Rahmenplan und einen Förderantrag für die zweite Ausbaustufe auf den Weg gebracht hat. Die Förderzusage liegt inzwischen vor, sodass mittlerweile Vorbereitungen für die Umsetzung getroffen werden.
Aufgabe der studentischen Charrette war die Erarbeitung von Grundlagen und Ideen für einen Urban Design Code – eine Art Gestaltungsregelwerk. Gegenstand der Charrette war nicht allein die Formulierung von Regeln für die Sanierung der Tagesanlagen und Bagger, für die Freiraumgestaltung und für das Design eines touristischen Themenweges. Vielmehr sollte auch ein Rahmen für zukünftige gewerbliche Nutzungen und Neubauten auf dem Areal abgesteckt werden. Hintergrund ist, dass Ferropolis als inspirierender Ort mehr und mehr Investitionsinteressen auf den Plan ruft. Konkret besteht zurzeit das Interesse eines Berliner Investors, auf dem See rund um die Halbinsel „Floating Homes“ zu errichten, die vor der beeindruckenden Kulisse der Bagger als Feriendomizile oder als schwimmender Back-stage-Bereich der Arena genutzt werden könnten.
Das Charretteverfahren
Eine „Charrette“ ist ein konsequent öffentliches Planungsverfahren mit direkter Planungsdemokratie, lebendiger Interdisziplinarität und konkreter Entscheidungsfindung, das die Lösung komplexer Probleme der Stadt- und Regionalentwicklung in kurzer Zeit zum Ziel hat. Mit dem Namen „Charrette“, der im Französischen „Karren“ bedeutet, ist eine Anekdote verknüpft, die ihre Arbeitsweise illustriert: Im Paris des 19. Jahrhunderts wurden die Arbeiten der Studierenden der Kunstakademie zum Semesterabschluss auf einem Karren zur Akademie gebracht. Wer nicht rechtzeitig fertig war, führte noch während der Fahrt die letzten Pinselstriche aus und wurde üblicherweise von der regen Anteilnahme der Bürger begleitet.
Seit den 1990er Jahren wird die Charrette als Planungsmethode vor allem in den USA angewendet. Unter den Bedingungen eines weitestgehend privatisierten Städtebaus sichern die in einer Charrette ausgehandelten Masterpläne und Regelwerke (urban codes) ein gewisses Maß an Qualitätsstandards und öffentlicher Beteiligung. In Deutschland ist das Verfahren noch neu, konnte jedoch bereits erfolgreich im Stadtumbau erprobt werden.
Die Arbeitsweise der studentischen Charrette
Im Gegensatz zu klassischen Workshops, die eher eine Bearbeitung vereinfachter Planungsaufgaben in konkurrierenden Teams praktizieren und die folglich auf ein möglichst breites Spektrum von Ideen abzielen, steht die studentische Charrette von Anfang an unter dem Vorzeichen des Konsenses. Ziel ist es, am Ende der vier Tage ein in sich konsistentes Gruppenergebnis zu präsentieren. Wo keine Übereinstimmung erzielt werden kann, sollen Varianten vorgestellt werden.
Deutlich wird, dass die Studierenden daher in hohem Maße ihren Arbeitsprozess selbst organisieren mussten. Die Moderation der Plenumdiskussionen sowie die Kommunikation zwischen den einzelnen Teams nahmen Dr. Harald Kegler und Thies Schröder in die Hand. In konzentrierter, interdisziplinärer Teamarbeit wurden Lösungen für Teilaufgaben skizziert, die nach kurzen Rückkopplungszyklen morgens, mittags und abends im Plenum diskutiert und abgestimmt wurden. Gruppen wurden unter anderem für die Themenfelder „Regionale Einbindung“, „Städtebau“, „Urban Design Code“ und „Floating Homes“ gebildet. Nach einer ersten Arbeitsphase teilten sich die Gruppen auf, formierten sich zum Teil neu und führten Ortsbesichtigungen durch. Der Besuch eines interessierten Investors sowie eines Architekten mit Erfahrungen im Bereich „schwimmende Häuser“ konnte für gezielte Rückfragen und zur Diskussion an Plan und Modell genutzt werden. Damit wurde beispielhaft ein Grundprinzip der Arbeit in Charretteverfahren praktiziert – die Einbeziehung lokalen und externen Fachwissens zur Entscheidungsfindung.
Den Mittelpunkt der Charrette bildete ein Modell im Maßstab 1:500, das von Studierenden aus Sand, mitgebrachten wie gefundenen Materialien konstruiert, stetig erweitert und umgebaut wurde. Platziert auf der Empore in der Orangerie, der zentralen Anlaufstelle für Tagestouristen, bot das Modell nicht nur ein geeignetes Medium zur internen Kommunikation sondern auch zur Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit.
Charrette und Öffentlichkeit
Charretteverfahren zeichnen sich dadurch aus, dass sie unmittelbar am Ort des Geschehens den Bezug zum Planungsgegenstand herstellen. Schon die Auswahl des Tagungsortes soll die prinzipielle Offenheit des Planungsprozesses für Beteiligte und interessierte Bürgerinnen und Bürger demonstrieren. Im Vorfeld der studentischen Charrette wurde das Verfahren in der Lokalpresse angekündigt und zum Besuch eingeladen. Da die Resonanz zunächst bis auf einige Tagesbesucher gering blieb, ging aus einer studentischen Initiative die Idee hervor, noch einmal gesondert zur Abschlussveranstaltung einzuladen. In einer spontanen Aktion wurden ca. 200 Papierschiffe gefaltet, die mit der Botschaft „Ein Schiff für jeden Gräfenhainicher ?“ zur Beteiligung an der Diskussion um die „Floating Homes“ und die Beziehung Gräfenhainichen – Ferropolis aufforderten und in der Fußgängerzone des Städtchens an Passanten verteilt wurden.
Die Ergebnisse der Charrette – die in weiten Teilen einen Gruppenkonsens widerspiegelten – konnten schließlich vor einem breiten Publikum aus Bürgern, Stadträten, Vertretern der Ferropolis GmbH, Bürgermeister und involvierten Planern präsentiert werden. Im Anschluss entfaltete sich eine rege Diskussion, die erkennen ließ, dass die Ergebnisse überwiegend auf Zustimmung stießen.
Wie geht es weiter?
Im Gegensatz zu einer professionellen Charrette waren bei der studentischen Charrette nur zeitweise lokale Entscheidungsträger anwesend, sodass die Ergebnisse allenfalls Empfehlungen darstellen können. Als solches fanden sie Eingang in den nachfolgenden Verfahrensschritt. Im Juli trat erneut die Planer-Charrette in alter Konstellation zusammen, um den Urban Design Code so weit zu konkretisieren, dass mit der zweiten Ausbaustufe begonnen werden kann. Dabei wurden zahlreiche studentische Ideen aufgegriffen, so zum Beispiel die Verortung der „Floating Homes“ in Verlängerung eines „urbanen“ Bandes, das sich über die Halbinsel Ferropolis erstreckt. Ebenso wurde das Leitbild für die Landschaftsgestaltung der Halbinsel Ferropolis, von den Studierenden als „Prärie“ formuliert, durch die Fachplanern als „Steppe“ übernommen. Ein von der „Urban Design Code“ Gruppe entwickeltes Besucherleitsystem, basierend auf der Verwendung und Umnutzung von auf dem Gelände allgegenwärtigen Flutungsrohren, wird zur Zeit auf Realisierbarkeit untersucht.
Sowohl von Seiten der Studierenden als auch der Betreuenden wurde hervorgehoben, dass die Studierendencharrette eine neue, positive Erfahrung war und als voller Erfolg angesehen werden kann. Die Ergebnisse nach nur zweieinhalb Tagen Arbeit, versammelt in einem Modell, können sich sehen lassen. Durch das Konsensprinzip des Charretteverfahrens wurde auf allen Maßstabsebenen eine gute inhaltliche Dichte und Tragfähigkeit erreicht, wie die Übernahme studentischer Ideen in die konkreten Ausbaupläne von Ferropolis beweist. In der Überzeugung, dass die Charrette als kooperatives Verfahren in der Planungspraxis an Bedeutung gewinnt, wird eine Wiederholung im nächsten Jahr, an anderem Ort und unter Beteiligung weiterer Universitäten und Disziplinen angestrebt.
Unterdessen wird das Sandmodell in der Orangerie von Ferropolis durch Mitarbeiterinnen der Ferropolis GmbH regelmäßig gepflegt und mit Wasser bestäubt, um seinen Zustand für interessierte Besucher und eine folgende Charrette zu erhalten…