Zum Kongress des Council for European Urbanism vom 8. bis 10. September 2005 in Berlin
Von János Brenner
Um es gleich vorwegzunehmen: der Kongress gehörte in seinen stärksten Partien zum Besten, was man im eingefahrenen Tagungsbetrieb erleben kann. Vor allem am Schlusstag schien es so, als hätten es die Redner bewusst darauf angelegt, sich gegenseitig an Pointiertheit der Gedanken und Suggestivität des Vortrags zu übertreffen. Der Versuch, die ganze Bandbreite der Anregungen auch nur annähernd vollständig zu referieren, ist schier unmöglich, daher können auch nur einige Schlaglichter auf den Kongress geworfen werden.
Das Council for European Urbanism (CEU), ein lockerer Zusammenschluss von überwiegend europäischen und amerikanischen Stadtplanern, hat sich die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung in den Städten, der Zersiedlung, der Zerstörung natürlicher und kultureller Ressourcen, monofunktionaler Entwicklung und des Verlustes an Rücksichtnahme auf die lokale und regionale Kultur auf die Fahnen geschrieben. Nach seiner 2003 in Stockholm verabschiedeten Charta soll dies durch Hinwirken auf gemischte Nutzungen, soziale Vielfalt der Städte, die nachhaltige Nutzung von Ressourcen, die Teilhabe an der Mobilität auch für Fußgänger und Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs, die klare Abgrenzung besiedelter Flächen gegen den Außenbereich und klar definierte öffentliche Räume geschehen. Nicht zuletzt soll dies durch eine Architektur bewirkt werden, welche die örtliche Geschichte, das Klima, die Landschaft und die Geographie respektiert. So weit, so gut, wird der geneigte Planer oder die Planerin einwenden, aber ist das nicht alles in aufgeklärten europäischen Planerkreisen schon „state of the art“? Die Antwort lautet: durchaus nicht. Zum einen mag das vielfach für die Planungstheorie in Europa zutreffen, wenn es auch nach wie vor Kontroversen mit Vertretern der „Zwischenstadt“ gibt (die offenbar dazu neigen, einen an sich beklagenswerten Zustand in den Rang eines Leitbilds zu erheben). Zum anderen versteckt sich gerade bei der Architektur „der Elefant im Wohnzimmer“ (was er dort tut, dazu komme ich noch). Nicht zuletzt scheint im Bereich des Städtebaus die übliche transatlantische Einbahnstraße der Übernahme amerikanischer Entwicklungen in Europa nicht zu gelten, vielmehr bezieht der dortige „New Urbanism“ auch Anregungen und Leitbilder aus dem „alten“ Europa.
Harald Kegler erinnerte zu Beginn des Kongresses an die Europarats-Initiative „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ im Jahre 1975, der rückblickend als Wendepunkt in der Wertschätzung dessen gelten kann, was man unbeschadet aller möglichen Missverständnisse als die europäische Stadt bezeichnen kann. Kegler forderte eine neue europäische Stadt, die das „Ende von Suburbia“ mit einer offenen Stadtgesellschaft verbinde.
Der erste Kongresstag war weitgehend der Stadtentwicklung von Berlin gewidmet. Die historische Betrachtung von Harald Bodenschatz spannte den Bogen von der Mietskasernen-Diskussion und verschiedene Formen der wilhelminischen Stadterweiterung bis zu den Zeichen, welche die „Rebellen-Szene“ nach der Stadtzerstörung der Kriegs- und Nachkriegszeit zugunsten der Erhaltung der Stadt des Industriezeitalters gesetzt habe, insoweit auch über das primär an vorindustrieller Urbanität orientierte europäische Denkmalschutzjahr hinausweisend. Die Folgen dieses Paradigmenwechsels beschrieben Erhart Pfotenhauer anhand der Bemühungen der IBA Stadt um eine erhaltende Erneuerung in West-Berlin und Günter Stahn an nahezu parallel verlaufenen Entwicklungen in Ost-Berlin, die im Bau des Nikolaiviertels kulminierten. Zu den Leitbilddiskussionen nach der Wiedervereinigung bemerkte rückblickend Dorothee Dubrau, man hätte bereits Anfang der 90er Jahre auf die Innenentwicklung setzen sollen. Heinz Tibbe betonte, Investoren ließen sich durchaus für die europäische Stadt gewinnen, wenn desintegrierte Stadorte keinen Gewinn mehr versprächen. Senatsbaudirektor Hans Stimmann erinnerte an die von Rem Koolhaas vertretene Gegenposition, das ursprünglich zentrale Funktionen wie das Einkaufen nur noch auf der „grünen Wiese“ sähe, und bekannte sich ausdrücklich zu den entwicklungs-fähigen Traditionen der europäischen Stadt. An die Ursprünge der Verwendung dieses Begriffs erinnerte Christoph Sattler bei seiner Präsentation des Projekts Potsdamer Platz, der hier beim städtebaulichen Wettbewerb bewußt als Gegenbild zur amerikanischen Stadtentwicklung gewählt worden sei. Hans Kollhoff legte dar, die nachher bei der Umsetzung entstandene und ob ihres amerikanischen Konzepts häufig angegriffene Mall sei die wirtschaftliche Basis des Projekts. Interessanterweise meinte ausgerechnet der ehemalige Bürgermeister von Milwaukee und Präsident des Congress for New Urbanism in den USA, John Norquist, die Popularität der Malls ginge inzwischen in den USA zurück, man könne doch daher die Mall später ruhig beseitigen und zu einem mehr “europäischen” Konzept zurückkehren.
Bundesbauminister Manfred Stolpe sagte zu Beginn des zweiten Kongresstages, Stadtpolitik sei als integrierte Bau-, Wohnungs- und Mobilitätspolitik eine Daueraufgabe. Er bekannte sich ausdrücklich zur ökologisch intakten Stadt der kurzen Wege. „Unsere Städte lassen sich nicht in der Fläche auflösen“, sagte der Minister. Auch wenn die bauliche Seite der Stadt häufig dominant zu sein scheine, leite er das erste Bild der Stadt vom Sozialen ab, erklärte Stolpe. Vor diesem Hintergrund seien ihm zwei Dinge besonders wichtig: die Stadt für Familien und Kinder und das Zusammenleben der Generationen in der Stadt.
Der für die Stadtentwicklungspolitik zuständige stellvertretende britische Premierminister, John Prescott, riß die Kongress-teilnehmer durch seine engagiert vorgetragene Rede zu spontanem Applaus hin. Die erweiterte EU brauche einen neuen Ansatz für die Städtebaupolitik. Die Zeit sei reif, um einen nachhaltigen Ansatz für die Stadtentwicklungspolitik zu finden, so Prescott. Unter Anspielung auf die EU-Agrarsubventionen meinte Prescott, es sei moralisch nicht zu vertreten, wenn viele Menschen in der Dritten Welt von zwei Dollar am Tage leben müßten, während für jede europäische Kuh genau dieser Betrag aufgewandt werde. Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit seien zwei Seiten der Medaille, zugleich sei die wirtschaftliche Entwicklung die wichtigste Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung. Die Politik der britischen Regierung habe es geschafft, das Kyoto-Ziel bei gleichzeitigem Wirtschafts-wachstum zu erreichen. Prescott zog eine Parallele zwischen den Strukturproblemen im Norden Englands und den neuen Ländern in Deutschland einerseits und den fortbestehenden Wohnraummangel in den prosperierenden Regionen wie Südostengland und Oberbayern andererseits. In Großbritannien sei man dabei, die Prioritäten der Stadtentwicklungspolitik neu zu setzen. Dazu hätten eine Reform des im Kern noch aus dem Jahr 1947 stammenden und inzwischen zum Hemmschuh gewordenen Planungssystems, insbesondere verbesserte Instrumente gegen den großflächigen Einzelhandel auf der grünen Wiese, Förderprogramme für den öffentlichen Personennahverkehr sowie erfolgreiche öffentlich-private Partnerschaften bei der Wiedernutzung von Brachflächen beigetragen. Rund zwei Drittel aller neuen Wohnungen würden bereits auf bisherigen Stadtbrachen errichtet.
John Norquist zeigte mit nahezu polemischer Suggestion Bilder des intakten Detroit sowie des zerstörten Berlin 1945 einerseits und des durch autogerechte Planung (selbst-)zerstörten Detroit sowie des wiederaufgebauten Berlin heute. Urbanität sei bisher in den USA weitgehend stigmatisiert gewesen, es gebe aber erste Anzeichen für die Wiederkehr des Einzelhandels in die Innenstädte und für eine Renaissance der „klassischen“ amerikanischen Main Street in den Klein- und Mittelstädten. „Die Welt ist bereit dafür, was wir tun“, rief Norquist mit einer Begeisterung aus, die man dem Zwei-Meter-Mann skandinavischer Herkunft so ohne weiteres gar nicht zugetraut hätte.
Beiträge in den Arbeitsgruppen umkreisten planerische Probleme in Schweden, Italien und den Niederlanden, weitere Plenarvorträge die stadtentwicklungspolitischen Perspektiven von Warschau (Tomasz Gamdzyk), Tel Aviv (Irit Solzi und Yodan Rafé) sowie die „urbane Renaissance“ in England (George Ferguson).
Bemerkenswert war die Einleitung des gemeinsamen Vortrags von Javier Cenicacelaya (Spanien) und José Baganha (Portugal) zum Thema „Die Iberische Halbinsel setzt das Zeichen“: Cenicacelaya erinnerte an die seinerzeit in spanischen Schulen erteilten Kopfnoten. Neben dem auch in Deutschland bekannten „Betragen“ sei die zweite Kopfnote die „Urbanität“ geswesen. Man sollte durchaus einen Augenblick beim altmodischen Charme dieses Begriffs verweilen – offenbar wird (wurde) dem Städtischen gegenüber anderen Lebensformen doch so etwas wie eine höhere, anspruchsvolle Form des zwischen-menschlichen Umgangs zugeschrieben.
Der Pferdefuß der Präsentation der beiden Kollegen von der iberischen Halbinsel war dann allerdings doch die Frage der architektonischen Formensprache. Eine ganze Reihe von Beispielen der Einfügung von Neubauten in den historischen Kontext wurde präsentiert – für das Auge des mittel-europäischen Betrachters meist durchaus gelungene Beispiele dafür, wie man diese anspruchsvolle Aufgabe frei von Anbiederung an das Umfeld, in einer eigenen, zeitgenössischen Formensprache, jedoch durchaus in gebotenem Respekt vor ebendiesem Umfeld bewältigen kann. Zur nicht geringen Überraschung mehrerer Teilnehmer wurde diese Art des Herangehens allerdings von den iberischen Präsentatoren ausdrücklich verworfen. Zwar ist auch die Lesart möglich, es genüge nicht, gute Architektur zu machen, um eine nachhaltige Stadt zu erreichen – José Baganha hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die soziale Dimension hingewiesen. Es blieb dem Stadtplaner Ray Gindroz aus den USA vorbehalten, zur großen Heiterkeit der Zuhörerschaft auf ein Phänomen hinzuweisen, das er den “Elefanten im Wohnzimmer” nannte: alle redeten drumherum, täten so, als wäre er gar nicht da, und hofften insgeheim, daß er sich nicht justament hier erleichtern werde. Dieser “Elefant” sei eben die architektonische Formensprache, in der sich neue Urbanität angemessen äußern könne. Er forderte, den “Elefanten” endlich zur Kenntnis zu nehmen und nicht länger drumherumzureden.
Am Ende des Kongresses hatte man – oder hatte zumindest ich – das sich selten einstellende Gefühl, nicht nur vielen Gleichgesinnten zugehört zu haben, sondern auch eine Perspektive und Motivation für den Berufsalltag mitgenommen zu haben. Ein weiteres Thema für künftige Aktivitäten des CEU wurde zum Schluss von Harald Kegler angesprochen und liegt angesichts aktueller Entwicklungen an der Hand: die Frage nach der „postfossilen Stadt“ als anstehende Aufgabe. Man sollte dem Council for European Urbanism auch vor diesem Hintergrund weiterhin Aufmerksamkeit widmen.