Harald Bodenschatz
Veröffentlicht in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.): 2001. 2002. Bau und Raum Jahrbuch. Tübingen 2002
Noch vor kurzem war New Urbanism nur wenigen Spezialisten ein Begriff: Wer hatte schon das Buch von Prinz Charles „A Vision of Britain“ (1989) bis zum Schluß durchgeblättert, um auf ein merkwürdiges neues Städtchen namens Seaside zu stoßen? Wer glaubte damals dem Prinzen, dass ausgerechnet dieses Städtchen „beginnt, das architektonische Denken überall in den Vereinigten Staaten zu beeinflussen“? Wer hatte schon den US-Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig 1996, auf dem das neue Disney-Städtchen Celebration vorgestellt wurde, als fachlichen Beitrag ernstgenommen? Die US-amerikanische Stadt schien wieder einmal ein neues Monster erzeugt zu haben – eine Kunststadt, ein gefährliches Gebräu von gestriger Architektur, sozialer Sterilität und Abgeschlossenheit.
Der Film „The Truman Show“, der in Seaside gedreht wurde, hat dieses Bild hierzulande bekräftigt. Doch ein solches Bild ist trügerisch, zu einfach, zu bequem. New Urbanism ist nicht schlichtweg altmodisch, sondern ein schillerndes Kompositum zeitgenössischer Stadttechnik, zeitgenössischen Komforts und traditionalistischen Städtebaus. Sein Hintergrund ist die Kritik am Zustand der US-amerikanischen Stadt, am suburban sprawl, die zunehmend von einer breiteren Öffentlichkeit geteilt wird.
Prinzipien
New Urbanism ist nicht nur eine Klaviatur historischer städtebaulicher Formen. Er zielt auch auf eine Nutzungsmischung, eine soziale Mischung, eine größere bauliche Dichte, eine architektonische Vielfalt im Rahmen eines städtebaulichen Regelwerks. Er orientiert sich an der regionalen Architekturtradition. Er fordert ein Zentrum oder mehrere Zentren sowie Fußgängerfreundlichkeit, die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs, die Reduktion des Autoverkehrs. Er fordert eine offene Stadt, die mit der Umwelt maximal vernetzt ist, das Gegenteil einer gated community. Und er plädiert für Zeit beim Bau neuer Stadtanlagen. In all diesen Punkten will New Urbanism eine Alternative zur modernen suburb sein. Ein an den Prinzipien der historischen Stadt orientierter Städtebau, so die Grundannahme, dient dem Kampf gegen den Zerfall der Gesellschaft, fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt, stimuliert die Nachbarschaft und erweckt den allseits beschworenen Wert der community zu neuem Leben. Auffällig ist bei den Projekten des New Urbanism die Dominanz des Städtebaus über die Architektur. Grundlage eines Projekts ist der master plan, der den Stadtgrundriß sowie die Verteilung der öffentlichen und privaten Grundstücke und Bauten festlegt. Zusätzlich gibt es einen urban code, ein städtebauliches Regelwerk, das die Regeln der architektonischen Gestaltung bestimmt. Erarbeitet werden diese planerischen Grundlagen zumeist durch ein besonderes Verfahren, “charrette” genannt. Dabei kommen die Planer mit dem Bauherren, Vertretern öffentlicher Institutionen, gesellschaftlicher Gruppen u.a. zusammen, um im Laufe einiger Tage stufenweise die Planung zu erarbeiten. Master plan, urban code und charrette bilden das Instrumentarium des New Urbanism. Es erzwingt von vorneherein eine Zusammenschau von städtebaulicher, landschaftsplanerischer und architektonischer Planung.
The Regional City
Die meisten Projekte des New Urbanism werden als privater Städtebau im suburbanen Raum gebaut und – oft zurecht – als suburbs in disguise kritisiert. New Urbanism sucht aber nicht nur Alternativen zu suburbia, Ziel ist auch eine Nachbesserung bestehender suburbs, etwa durch Implantationen von neuen kleinen Zentren oder durch den Umbau von „sterbenden“ shopping malls. New Urbanism umfaßt aber auch die Revitalisierung der Innenstadt. Insgesamt kann man dort zwei große Aktionsfelder unterscheiden: zum einen die eher privat finanzierten Projekte zur Revitalisierung der downtowns, der Zentren selbst, und zum anderen die mit öffentlichen Mitteln hochsubventionierten Projekte zur Erneuerung der von Schwarzen bewohnten Zentrumsrandquartiere, die als Produkte eines verfehlten sozialen Wohnungsbaus gelten. Zur Erneuerung dieser Viertel gibt es ein finanzstarkes Bundesprogramm, das 1989 geschaffene HOPE VI Programm, das sich inzwischen den Prinzipien des New Urbanism verschrieben hat. New Urbanism bedeutet schließlich und letztlich auch: Regionalplanung. Ein gutes Beispiel dafür ist Portland. Dort gibt es einen Langzeitversuch großräumiger Planung und Gestaltung: durch die Markierung einer Wachstumsgrenze der Großstadt und den Ausbau eines schienengebundenen Massenverkehrsmittels.
CNU
New Urbanism ist aber nicht nur eine städtebauliche Produktpalette, die man bewundern oder kritisieren kann. Er ist auch eine Institution, eine institutionalisierte Bewegung. Er organisiert sich – in bewußter kritischer Anlehnung an die Kongresse für Neues Bauen (CIAM) der Zwischenkriegszeit – in Form von Kongressen (Congress for the New Urbanism = CNU). 1993 fand der erste Kongreß statt, 2000 in Portland der achte. Nach Portland kamen 1400 Leute, und zwar vor allem Menschen von weißer Hautfarbe im Alter von 30 bis 40 Jahren. Dennoch war das soziale Spektrum sehr breit. Dort trafen sich Leute, die hier bei uns gar nicht miteinander sprechen würden: Vertreter der behutsamen Stadterneuerung, neotraditionalistische Architekten, hochrangige Politiker, Investorenvertreter, Architekturkritiker, Umweltaktivisten und Vertreter sozialer Stadtteilinitiativen. Diese Begegnung unterschiedlicher Akteure ist eines der faszinierendsten Aspekte des New Urbanism. Auf den Kongressen werden nicht nur die eigenen Erfahrungen reflektiert, sondern auch die nächsten Aufgaben bestimmt. Jeder Kongreß ist ein Spiegel des Gewichts der unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Bewegung. Diese können – vereinfacht – auf zwei zugespitzt werden: auf eine Gruppe, die eher am urban design, an der städtebaulichen Form interessiert ist, und eine andere Gruppe, denen die Form weniger am Herzen liegt als ökologische und soziale Ziele. Das aber ist gerade die Stärke der Bewegung: die Vernetzung von gestalterischen und ökologisch-sozialen Zielen im Rahmen gemeinsamer Diskussionsfelder – Nachbarschaft bzw. community, öffentlicher Verkehr, Region, womit auch die drei zentralen Themen des New Urbanism benannt wären.
Anspruch und Wirklichkeit
Der hohe städtebauliche Anspruch des New Urbanism wird durch die bisherigen Projekte nur bedingt eingelöst. Sicher, der Unterschied zum schlichten System der Erschließungsstraßen der suburbs ist offensichtlich. Die Stadtgrundrisse der New-Urbanism-Projekte sind aber in der Regel ein etwas willkürliches Potpourri aus dem Repertoire der Stadtbaugeschichte, eine Sammlung von Zitaten und manchmal nur ein Formenspiel, das wenig Sinn macht. Das vielleicht wichtigste städtebauliche Prinzip des New Urbanism ist die Ablehnung selbstgewählter Ghettos und die Befürwortung der maximalen Verknüpfung einer neuen Siedlung mit dem Umfeld. Die meisten Beispiele kommen diesem Ziele nahe. Gut erschlossen durch ein leistungsfähiges öffentliches Nahverkehrssystem ist aber kaum ein Projekt. Was bleibt vor diesem Hintergrund von der propagierten sozialen Mischung? Diese beschränkt sich in der Praxis auf unterschiedliche Einkommensklassen innerhalb der weißen Mittelschicht – immerhin mehr als in den üblichen suburbs, aber auch nicht gerade ein revolutionärer Erfolg. Lediglich bei HOPE VI-Projekten wird eine etwas breitere Mischung realisiert – allerdings innerhalb der schwarzen Bevölkerung und mit regelrechtem Zwang. Es ist aber hervorzuheben, daß auch innerhalb der Bewegung des New Urbanism diese Problematik thematisiert wird. Und zwar immer intensiver, wie der letzte Kongreß in Portland gezeigt hat. Dort war die Suche nach Strategien gegen die soziale Spaltung der Stadt ein zentrales Thema.
Learning from CNU?
New Urbanism ist auch für Europa von Interesse. Nicht aber wegen seiner Architektur: In den USA gibt es eine andere Bautradition, eine andere Wohnhaustradition, bei der Baukonstruktion, bei den Wohnungsproduzenten wie bei der stilistischen Verkleidung. Während wir von der Analyse und den Experimenten in US-suburbia lernen können, sind die Erfahrungen mit dem Umbau der Innenstädte in Europa reicher. Das gilt allerdings weniger für das Thema der Integration postmoderner Erlebniswelten in den urbanen Kontext. Auch hinsichtlich der Akteure gibt es einen Unterschied. In den USA haben wir einen eher privaten Städtebau, während wir hier immer noch von einem öffentlichen Städtebau ausgehen, oder genauer: ausgehen zu können glauben. Am interessantesten ist aber die Bewegung des New Urbanism selbst, deren praktische Orientierung, die sich in zahlreichen Experimenten äußert, deren diskursive Orientierung, die sich in einer großen, die Professionen wie Interessengruppen übergreifenden Debatte äußert. Eine Debatte, wie wir sie in Deutschland nicht kennen, eine Debatte, die auch grundsätzliche wie konkrete Kritik einschließt. Die strategische Fokussierung auf den Städtebau für die postindustrielle Stadt ist äußerst fruchtbar. Debatte wie praktische Experimente vermeiden eine polarisierende Entgegensetzung von Innenstadt und suburbia. Für den New Urbanism ist auch in dieser Frage eine übergreifende Sichtweise typisch. Natürlich gibt es innerhalb der Bewegung Streit darüber, wo die Schwerpunkte gesetzt werden sollen – aber es geht immer um die Schwerpunktsetzung, nicht um ein Entweder-Oder. New Urbanism hat sich zum Ziel gesetzt, die gesamte Stadtregion zu qualifizieren – downtown und suburbia, nicht downtown oder suburbia.
Weiterführende Literatur:
Harvard Design Magazin Winter/Spring 1997
Die alte Stadt 4/1998
Stadtbauwelt 145/2000
Frank Roost: Die Disneyfizierung der Städte. Opladen 2000
Congress for the New Urbanism: Charter of the New Urbanism. New York u.a. 1999
Andres Duany, Elizabeth Plater-Zyberk, Jeff Speck: Suburban Nation. New York 2000
John A. Dutton: New American Urbanism. Milano 2000
Peter Calthorpe, William Fulton: The Regional City. Washington, Covelo, London 2001
Internet-Seiten:
New Urbanism Bewegung (Congress for the New Urbanism – CNU): www.cnu.org
New Urbanism Planungsbüro von A. Duany und E. Plater-Zyberk: www.dpz.com
New Urbanism Planungsbüro von P. Calthorpe: www.calthorpe.com
HOPE VI Programm: http://portal.hud.gov/hudportal/HUD?src=/program_offices/public_indian_housing/programs/ph/hope6