Gesellschaftliche Integration gescheitert?
Stadtpolitik in Frankreich vor Herausforderungen in einer neuen Dimension
Wolfgang Neumann
1.Problemdruck
Die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Bewohnern sozialer Brennpunkte und der Polizei im November 2005 haben erneut ein durch räumliche und soziale Segregation hervorgerufenes strukturelles Problem Frankreichs offen dargelegt: die Tatsache nämlich, dass es ganz spezifische Quartiere mit besonderen städtebaulichen, wohnungspolitischen und wirtschaftlich-sozialen Problemen gibt, die zunehmend den Kern sozialer und stadtstruktureller Herausforderungen in Frankreich bezeichnen.
Aktuell zählt man 752 solcher städtischen Problemgebiete, die als so genannte „Zones Urbaines Sensibles (ZUS) vom Zentralstaat in den Städten und Gemeinden Frankreich ausgewiesen werden. Diese städtischen Sonderzonen werden definiert durch das Vorhandensein von „Grands Ensembles“ bzw. stark sanierungsbedürftiger Wohnquartiere und einem „erheblichen Ungleichgewicht von Wohnen und Arbeiten in diesen Quartieren“. Die durchschnittliche Größe dieser „sensiblen Stadtzonen“ liegt bei etwas über 6000 Bewohnern. Die kleinste ZUS umfasst etwas über 300 Einwohner wohingegen die großen Zones Urbaines Sensibles im Umkreise der Städte Paris, Lyon und Marseille zwischen 30 000 und 50 000 Bewohner zählen.
Wie die Karte 1 zeigt, sind diese Problemzonen nicht nur auf die Vorstädte der großen Ballungsräume zentriert, sondern verweisen vielmehr durch die ihre Streuung über das gesamte Territorium landesweite Verbreitung auf eine neue Dimension der Herausforderung vor die sich französische Stadtpolitik gestellt sieht.
2.Bestandsaufnahme
Schon die summarische Erfassung ausgewählter Indikatoren für diese städtischen Brennpunkte unterstreicht nachhaltig die räumliche und soziale Spaltung Frankreichs:
- Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in diesen Problemgebieten ist mit etwas über 20% mehr als doppelt so hoch wie der französische nationale Durchschnitt. In bestimmten städtischen Problemzonen erreicht die Jugendarbeitslosigkeit nahezu 50%, der Anteil so genannter prekärer Arbeitsverhältnisse liegt ebenfalls weit über dem nationalen Durchschnitt. Personen mit Migrationshintergrund bzw. Zuwanderer sind in all diesen Dimensionen weit überproportional betroffen.
- Das durchschnittliche jährliche Haushaltseinkommen in diesen Gebieten weicht mit 19 000 Euro erheblich vom nationalen Durchschnitt von 30 000 Euro ab; mehr als die Hälfte aller betroffenen Haushalte hat ein Einkommen unterhalb der steuerlichen Mindestgrenze.
- Der prozentuale Anteil der Sozialhilfeempfänger ( RMI ) erreicht mit 7,1% einen doppelt so hohen Anteil wie der landesweite Durchschnitt.
- Fast 40% der Jugendlichen über 15 Jahre, die nicht mehr der Schulpflicht unterliegen, haben keinen Abschluss.
- Auf je 5000 Einwohner in den ZUS kommen gerade mal 6,5 medizinische Einrichtungen, während das Verhältnis für Frankreich im Durchschnitt bei 14,6 solcher Einrichtungen je 5000 Einwohner liegt.
- Auch die Alterspyramide, ethnische Herkunft der Bewohner und die Familienstrukturen unterscheiden sich signifikant von der Situation in Frankreich insgesamt. So liegt der Anteil der unter 20jährigen mit ca. 34% deutlich über dem nationalen Durchschnitt von 25%. Der prozentuale Anteil Alleinerziehender liegt mit 14,9% weit über den 8,0% im landesweiten Durchschnitt.
- Der Ausländeranteil ist aufgrund des französischen Staatsangehörigkeitsrechts und der z.T. fehlenden statistischen Erfassung von Bewohnern ausländischer Herkunft nur schwer zu bestimmen. Der offiziell genannte Anteil von ca. 17% ist deshalb nur sehr begrenzt aussagekräftig. Der Anteil der Wohnbevölkerung mit „Migrationshintergrund“ in diesen Vierteln liegt weitaus höher, der prozentuale Anteil der Nicht-EU-Ausländer an den Einwanderern beträgt insgesamt über 80% – die stärksten Gruppen mit jeweils etwas über 20% bilden dabei Einwanderer aus Algerien und Marokko. Hinzu kommt ein ebenfalls erheblicher Anteil von Zuwanderern aus den schwarzafrikanischen Staaten.
- Der Anteil der Sozialwohnungen ist mit durchschnittlichen 62% drei Mal so hoch wie in Frankreich insgesamt und mit bis zu 100% in einzelnen Wohnvierteln völlig abweichend von der sonst vorherrschenden Mischung von Wohneigentum und Miet- bzw. sozialem Wohnungsbau. Ebenso gravierend ist die Abweichung in der Belegungsdichte und in der durchschnittlichen Wohnungsgröße.
Versucht man die hier anhand ausgewählter Indikatoren skizzierte Situation der Zones Urbaines Sensibles zusammenzufassen und mit Blick auf offensichtliche Strukturprobleme in diesen sozialen Brennpunkten zu bewerten, so lässt sich folgern, dass es sich bei den städtischen Konflikten weder um vereinzelte Eruptionen handelt, noch um soziale Problemstellungen, die kurzfristig veränderbar wären. Im Gegenteil: Auf die immer deutlicher zu Tage tretenden gesellschaftlichen Spaltungstendenzen und ihre nahezu dramatisch zu nennende Verfestigung im Zeitverlauf verweisen mehrere Faktoren: Die seit Beginn der 1980er Jahre quantitativ wachsende Zahl von offenen Konflikten, ihre Formen und Intensität und mehr noch ihre Lokalisierung in bestimmten Städten und Vorstädten, deren Grands Ensembles alle vergleichbare Entwicklungen und soziale Merkmalskonstellationen aufweisen. Ein weiteres hervorstechendes gemeinsames Strukturmerkmal der sozialen Brennpunkte ist die im Zeitverlauf kontinuierliche Akkumulation von sozialen Problemlagen bei der Wohnbevölkerung. Nahezu alle sozialen Probleme, die sonst in räumlicher, zeitlicher und soziologischer Hinsicht dekonzentriert sind, ballen sich in signifikanter Weise in diesen von Grands Ensembles dominierten Quartieren. Alle Formen von Delinquenz und Kriminalität treten auf; überall in diesen Grands Ensembles sind familiäre Desorganisationen und soziale Anomien überdurchschnittlich nachweisbar. Alle Untersuchungen zeigen, dass die schulische Misserfolgsquote deutlich über dem Landesdurchschnitt liegt, ebenso wie die Arbeitslosenquote (vor allem in der Altersgruppe zwischen 15 und 24 Jahren). Hinzu kommen sozial deviante Verhaltensweisen, Alkoholismus, Suizide, Aggressionen usw.
3. Integration durch Stadtpolitik- Etappen
Vor diesem Hintergrund muss die schon 1981 begonnene Stadtpolitik à la française gesehen werden, die eine Bündelung von Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupolitik, von Politiken zur Verbesserung der schulischen, sozialen und kulturellen Versorgung, von arbeitsmarktpolitischen und wirtschaftlichen Fördermaßnahmen sowie von Kriminalitätsbekämpfung und Sicherheit anstrebt und schrittweise auch durchaus mit Teilerfolgen umgesetzt hat. Der folgende Kasten präsentiert die unternommenen und besonders in den letzten drei Jahren durch die Arbeit des Ministre de l’emploi, de la cohesion sociale et du logement, Jean- Louis Borloo, intensivierten politischen Schritte zur Überwindung dieser gesellschaftspolitisch brisantesten Probleme Frankreichs.
1981 | Gewalttätige Ausschreitungen in Les Minguettes (Rhône-Alpes) |
1982 | Schaffung der Zones d’Education Prioritaires, ZEP |
1983 | Bericht von Hubert Dubedout: „Ensemble, refaire la Ville“ |
1984 | Einrichtung des Comité Interministériel des Villes, CIV (Interministerieller Ausschuss für die Stadt) |
1985 | 9. Planvertrag Staat-Region mit dem integrierten Programm Développement Social des Quartiers, DSQ (Soziale Stadtteilentwicklung) -> 148 betroffene Stadtteile |
1990 | Schaffung des Ministeriums für Stadtentwicklung (Ministère de la Ville), Michel Delebarre |
1991 | Loi d’orientation pour la Ville, LOV
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1995 | Präsident Jacques Chirac:
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1996 | Regierung Juppé
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2000 | Loi relative à la solidarité et au renouvellement urbain, SRU (Gesetz über Solidarität und Stadterneuerung)
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2001 | Jean-Louis Borloo wird beigeordneter Minister für Stadtentwicklung und Stadtumbau (Ministre délegué à la Ville et à la Rénovation urbaine; heute : Ministère de l’emploi, de la cohésion sociale et du logement) Loi d’orientation et de programmation pour la ville et la rénovation urbaine (Gesetz über Stadtentwicklungs- und Stadtumbauplanung)Ziele:
Begleitende Maßnahmen:
Verabschiedung des Plan de cohésion sociale (Plans für den sozialen Zusammenhalt)
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4. Ergebnisse der französischen Stadtpolitik
Bei der Umsetzung der französischen Stadtpolitik nehmen 2 Instrumente eine dominierende Stellung ein: die so genannten Zones Franches Urbaines (ZFU), d.h. steuerliche Freizonen sowie die Zones d’Education prioritaires (ZEP) – besondere schulpolitische Förderzonen.
Heute existieren 100 solcher steuerlicher Freizonen ZFU, die sich – bei Unternehmensgründungen in ausgewählten Quartieren – durch eine volle Befreiung von der Gewerbesteuer sowie Körperschaftssteuer, beschleunigte Abschreibungsmöglichkeiten und einer Befreiung vom Arbeitnehmeranteil der Sozialabgaben für eine Dauer von zwölf Monaten für den 4. – 50. Beschäftigten eines Betriebes auszeichnen. Die Einführung dieser steuer- und abgabebefreiten städtischen Freizonen 1997 kann trotz des hohen Finanzaufwandes nach einer im Jahr 2003 vorgelegten Bilanz für den ersten Fünf -Jahres -Zeitraum dennoch als relativer Erfolg gewertet werden. Die Studie belegt, dass 12000 neue Unternehmen mit insgesamt 46000 Arbeitsplätzen in diesen Quartieren eingerichtet worden sind, von denen wiederum zwei Drittel neu geschaffene Arbeitsplätze waren. Nahezu die Gesamtheit dieser von allen Abgaben befreiten Arbeitsplätze in Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten sind zeitlich unbegrenzte Arbeitsverhältnisse. Die Klausel, der zufolge mindestens 20% der Beschäftigten aus dem Stadtviertel selbst kommen müssen, wurde voll erfüllt, da der Prozentsatz in dieser Kategorie zwischen 25- und 30% variiert.
Diesem relativ erfolgreichen Ansatz steht eine deutlich schlechtere Bilanz der Politik der Schulförderung in den so genannten Zones d’Education Prioritaire ZEP gegenüber. Ziele dieses stadtpolitischen Instruments waren ursprünglich der Abbau der Ungleichgewichte bei den schulischen Leistungen und die Angleichung der allgemeinen Rahmenbedingungen für die schulische Ausbildung. Zu einem niederschmetternden Ergebnis auf der Basis einer breiten Evaluierung dieser Politik kommt allerdings eine Untersuchung aus dem Jahr 2005: Sie zeigt, dass sich weder die Gefällestrukturen vermindert haben , noch daß der Schulerfolg in den ZEP messbar erhöht wurde; weder ist es gelungen, qualifizierte Lehrer für diese Politik zu gewinnen, noch ist es zu verbesserten Arbeitsbedingungen (z.B. bei der Schüler-Lehrer Relation) gekommen – und das trotz eines beachtlichen zusätzlichen Mitteleinsatzes in diesen Schulbereichen.
Schlaglichtartig beleuchtet deshalb dieser empirische Befund eine Reihe von Defiziten nicht nur der Schulpolitik, sondern einer territorial ausgerichteten Integrationspolitik insgesamt, wie sie in Frankreich seit mehr als zwei Jahrzehnten praktiziert wird. Bezogen auf die hier angesprochene Bildungsförderung als Instrument der Stadtpolitik wäre in erster Linie eine zielgenauere Ausrichtung der Mittelverwendung in den ZEP notwendig. Die damit angesprochene Abkehr von einem häufig praktizierten Gießkannenprinzip gilt auch für andere Förderbereiche der Stadtpolitik. Ebenso wichtig ist es, neue Leuchtturm- und Pilotprojekte zu entwickeln, deren zentrale Funktion darin liegt, die Logik des Ausschlusses spezifischer Wohnterritorien zu durchbrechen. Einzelne Initiativen, wie beispielsweise der vom Institut d’Etudes Politiques in Paris praktizierte erleichterte Zugang zu dieser Bildungseinrichtung für Studenten aus den Problemvierteln, sind hier positiv hervor zu heben.
5. Schlussbemerkungen
Versucht man in wenigen Sätzen den harten Kern des Problems der räumlichen-sozialen Segregation in Frankreich zu umreißen, so bleibt festzuhalten: im Gegensatz zu einer häufig geäußerten Meinung bezeichnen keineswegs die kulturell-ethnischen Konfliktlinien und daraus resultierende unterschiedliche Wertordnungen die prioritären Problemstellungen. Es sind vielmehr zunehmende räumliche und soziale Exklusionsprozesse die das Fundament einer „Ghettobildung à la francaise“ bilden.
Wohnungsbaupolitik und Stadtentwicklung müssen viel stärker als bislang auf eine soziale Mischung in den Quartieren ausgelegt werden. Daneben sind Arbeitsmarktintegration, Schul- und Ausbildungsförderung wichtige Ansatzpunkte einer integrationspolitisch erfolgreichen Stadtpolitik, die diese Exklusionsprozesse stoppen könnten.
Ob es allerdings gelingt eine solche gebündelte und neu fokussierte Stadtpolitik angesichts des bestehenden Problemdrucks tatsächlich einzuleiten und schrittweise auszubauen erscheint fraglicher denn je.