New Urbanism als Strategie für die regionale Stadt?

Harald Bodenschatz/Harald Kegler
Veröffentlicht in: Der Architekt 7/02

“Die Grenze zwischen Stadt und Land” – der sich ausbreitende Sprawl mit Mobile Homes zwischen Denver und Bolder in Colorado (Quelle: National Geographic, Nov. 1996, Washington, S. 99)

Die deutsche Rezeption des New Urbanism ist immer noch geblendet von den Bildern aus Seaside und Celebration: wie schrecklich, wie rückwärtsgewandt, wie geschichtsfälschend! Die Wogen der Empörung trüben den Blick hinter die Kulissenarchitektur: New Urbanism ist keine Architekturbewegung, sondern zuallererst eine planerische Antwort auf die Entwicklung der US-amerikanischen Stadt.

Die Großstädte in den USA sind in den 90er Jahren vor dem Hintergrund eines in der Geschichte der USA einzigartige Wirtschaftsbooms wieder in Bewegung geraten.

Sinkende Arbeitslosenrate, sinkende Hypothekenzinsen, steigende Einkommen schürten einen beispiellosen Bauboom, vor allem auch eine unersättliche Nachfrage nach eigengenutztem wie spekulativem Wohnungseigentum.

Die Großstädte wucherten weiter ins Umland, Suburbs wurden wie am Fließband errichtet, und im Rahmen dieser Suburbanisierung feierte eine Wohnform besondere Triumphe: die Gated Community, die geschlossene, bewachte Wohnanlage, die nicht mehr öffentlich zugänglich ist. Neu aber ist, dass dieser weitere Suburbanisierungsschub der 90er Jahre nicht mehr als Fortschritt gefeiert wird, als Umsetzung des American Dream. Hier hat ein Wandel der öffentlichen Meinung stattgefunden. Immer wieder finden sich in den Zeitungen Berichte, in denen vor den Gefahren und Folgen des Suburban Sprawl gewarnt wird. Politiker beider großer Parteien stimmen in diesen Chor ein. Es gehört mittlerweile zum guten Ton, sich über Suburbs negativ zu äußern. Die Entwicklung des Suburban Sprawl, so heißt es, hat zu einer Stufe geführt, die der US-amerikanischen Gesellschaft schadet. Erinnert sei nur an den Film American Beauty, aber natürlich auch an zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien, die zeigen, daß die suburbane heile Welt eine Illusion ist.

Vor diesem Hintergrund wird der Ruf nach Alternativen zu Suburbia verständlich. Und der New Urbanism erscheint vielen als angemessene Antwort auf die Fehlentwicklung der US-amerikanischen Stadt. Auch der New Urbanism ist ein Produkt des Baubooms. New Urbanism sucht aber nicht nur praktische Alternativen zu Suburbia, sondern auch Wege zur Revitalisierung der Innenstadt. New Urbanism bedeutet schließlich und letztlich: neue Regionalplanung. Erst auf dieser Ebene – so die Position einiger führender Vertreter des New Urbanism – lassen sich die sozialen, räumlichen und ökologischen Ziele des New Urbanism umsetzen. Die Bedeutung der regionalen Ebene zeigt sich in der 1996 verabschiedeten Charta des New Urbanism, aber auch daran, daß diese das zentrale Thema des Kongresses 2001 in New York war: „From Neighborhood to Region. Politics, Policy, and Design“.

Stadtland USA: Ausdehnung im Vergleich mit BRD

Ein gutes Beispiel für Projekte des regionalen New Urbanism ist – neben der Salt Lake Region, der Region Chicago und der Region Minneapolis-St. Paul – die Region Portland in Oregon. Dort gibt es einen Langzeitversuch großräumiger Planung und Gestaltung: durch die Markierung einer Wachstumsgrenze der Großstadt einerseits und den Ausbau eines schienengebundenen Masserverkehrsmittels andererseits. Der wichtigste Propagandist des regionalen New Urbanism ist Peter Calthorpe aus Kalifornien. Er ist auch an der Großraumplanung für Portland beteiligt.

Die Schnellstraßenbahn im Großraum Portland mit Siemenstechnologie ist für Europäer nicht gerade sensationell, für US-amerikanische Verhältnisse aber schon außergewöhnlich. Sie dient dazu, einige Pendler dazu zu bringen, auf das Auto zu verzichten. Daher gibt es an vielen Haltestellen riesige Parkplätze. Die Haltestellen bieten aber auch die Möglichkeit für verdichtete Siedlungen, sog. Transit Oriented Developments (TODs), eine Innovation des New Urbanism. Bedeutendes Beispiel hierfür ist Orenco Station in Hillsboro, ein neuer Ort im Westen von Portland an einer Haltestelle der Schnellstraßenbahn. Orenco Station wurde seit 1995 geplant, 1997 eröffnet und erhielt mehrere Auszeichnungen.

Das Modell Portland ist keineswegs unumstritten. Aufgrund der Restriktionen wird es von vielen Developern attackiert. Die steigenden Grundstückspreise, heißt es, seien auf die Wachstumsgrenze zurückzuführen. Viele Bewohner von Suburbs fürchten jede Verdichtung und wenden sich gegen weitere Bahnlinien. Auch innerhalb der Bewegung des New Urbanism wird Portland nicht nur hochgehalten. So griff etwa Andres Duany, ein „Veteran“ des New Urbanism, das Portlandmodell scharf an: Wachstumsgrenzen und Schnellstraßenbahnen allein können die suburbane Zersiedlung nicht verhindern, im Gegenteil, sie lullen die Aktivisten für eine bessere Stadt ein. Innerhalb der Wachstumsgrenzen hätte sich der Suburban Sprawl wie in anderen US-amerikanischen Städten ausgebreitet.

Die regionalen Strategien des New Urbanism fußen zum einen auf exemplarischen Planungen, etwa auf den Regionalplänen für den Staat New York seit den 1920er Jahren, ein Bezug, der mit der Preisverleihung für den „Regional Plan New York“ von 1996 beim „New Urbanism Charta Award“ 2001 deutliche wurde. Sie sind zum anderen eine Folge der Auseinandersetzung mit dem Sprawl, der „Suburban Nation“, wie das programmatische Buch von Plater-Zyberk und Duany aus dem Jahr 2000 zeigt.

Die regionale Stadt bzw. die „metropolitane Region ist die grundlegende wirtschaftliche Einheit der gegenwärtigen Welt. Die Zusammenarbeit von Regierungen, die öffentliche Politik, die Raumplanung und ökonomische Strategien müssen diese neue Realität widerspiegeln“, so fordert es die Charta des New Urbanism. Die Gestaltung der Regional City wird als zentrale und für die städtebaulichen und architektonischen Ausarbeitungen rahmensetzende Aufgabe angesehen. Begrenzung des Sprawl, Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs und Zurückdrängen des Autos sowie Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse sind wichtige Forderungen.

In der Charta heißt es dazu: „Großstadtregionen sollten Strategien entwickeln, die zur Erschließung von Lücken ermutigen und damit die periphere Ausdehnung vermeiden. Wo es angebracht erscheint, sollten Neuerschließungen an Stadtgrenzen als Nachbarschaften und Bereiche organisiert und in das bestehende urbane Muster integriert werden. Die Entwicklung nichtangrenzender Bereiche sollte in Form von Städten und Dörfern mit eigenen Stadtgrenzen organisiert sowie als ausgewogene Wohn-/Arbeitsstätten und nicht als bloße Schlafstädte konzipiert werden. Die Entwicklung und Neuentwicklung von Klein- und Innenstädten sollte das historische Bild, die Gegebenheiten und Grenzen respektieren.“

Außerdem werden neue Chancen für regionale Kooperation gesehen, die sich aus einem regionalen Lasten- und Gewinnausgleich zwischen den Gebietskörperschaften ergeben. Die Erlöse und Ressourcen können zwischen den Gemeinden und Zentren innerhalb von Regionen in kooperativer Weise geteilt werden, so dass der zerstörerische Wettkampf um steuerliche Einnahmen vermieden und die rationelle Koordination von Transport, Erholung, öffentlichen Diensten, Wohnungsbau und kommunalen Einrichtungen gefördert wird.

Der amerikanische Traum, so Peter Calthorpe, ist im Wandel begriffen. Die Regional City ist keine Utopie mehr, sie erreicht langsam die Öffentlichkeit, doch die Verfechter der „Edge City“, des Sprawl, sind nach wie vor dominant. Eine umfassende Aufklärung, Kommunikation, die weitgehende Vernetzung der Initiativen und Organisationen, der Bau von Beispielen, und nicht zuletzt der internationale Austausch erscheinen notwendig, um die Transformation der „Suburban Nation“ in eine „re-urbanisierte“ Nation, in der die Region, die Nachbarschaft bis zum Baublock und Kleinstadtzentrum wieder zu einem erfahrbaren Zusammenhang im alltäglichen Leben werden.

Der Umbau der Edge City hat erst mit kleinen Bausteinen begonnen, die noch keinesfalls überzeugen, aber einen ersten Schritt markieren. Ein großes Problem ist, so Calthorpe, daß sich New Urbanism in einer Verkehrsinfrastruktur entfalten muß, die für den Sprawl entworfen wurde. Ohne eine Veränderung dieser Infrastruktur läuft der New Urbanism in Gefahr, nur eine neue Form des Sprawl zu legitimieren – suburbs in desguise.

Die sich seit Anfang der 1990er Jahre verdichtende Auffassung über die Gestaltung der Region als Basis für eine ausgewogene Entwicklung war der Grund für den Aufbau einer Kooperation zwischen dem gerade wieder neugegründeten Bauhaus in Dessau und der Universität Miami, School of Architecture, die genau vor 10 Jahren begann. Das am Bauhaus entwickelte Konzept des Industriellen Gartenreiches in der Region um Bitterfeld bot eine Plattform für den internationalen Austausch über Strategien der regionalen Erneuerung, der regelmäßig stattfand und nun, da das Bauhaus andere Wege geht, durch neue Partner fortgesetzt wird. Im Zentrum des Austauschs stand der Umgang mit Brownfields, also mit industriellen Brachen, oder aufgegebenen Dienstleistungs- und Wohnbereichen. Dabei wurden planerische Impulse für die regionale Entwicklung an verschiedenen neuralgischen Orten der regionalen Erneuerung gestartet: Masterpläne für Vockerode 1992, Bitterfeld 1995 oder Zschornewitz 2001.

Der Masterplan für Bitterfeld 1995 stand am Beginn eines Prozesses, der in ein umfassendes Planwerk für eine „Regional City“ im altindustriellen Bereich mündete. Außerdem wurde, und das ist ebenso wichtig, die für Projekte des New Urbanism typische Methode der „Charrette“ experimentell eingeführt. Sie fand zum ersten Mal eine Weiterführung in der Planungswerkstatt für Bitterfeld 1996, die mit einem Europäischen Preis für Stadt- und Regionalplanung ausgezeichnet wurde. Neue Anwendungen findet diese Methode der extensiven wie intensiven Beteiligung und offenen Planungsarbeit beim aktuellen Stadtumbau, so in Eggesin und in Gräfenhainichen, zwei militärische bzw. Bergbau-Konversionsstandorte, die als Teile von regionalen Städtenetzen Impulse für den Umbau auf regionaler Ebene auslösen.

Dennoch ist der Austausch über den Atlantik zum Thema der Regionalentwicklung marginal. Das hängt mit der geringen Bedeutung, die diesem Thema in Deutschland beigemessen wird, zusammen. Zudem ist es mit der fruchtlosen Konfrontation zwischen Vertretern der „Europäischen Stadt“ und der „Zwischenstadt“ konfrontiert. Hier könnte die deutsche Debatte vom New Urbanism in den USA lernen. Debatte wie praktische Experimente des New Urbanism vermeiden eine polarisierende Entgegensetzung von Innenstadt und Suburbia. Natürlich gibt es innerhalb der Bewegung Streit darüber, wo die Schwerpunkte gesetzt werden sollen – aber es geht immer um die Schwerpunktsetzung, nicht um ein Entweder-Oder. New Urbanism hat sich zum Ziel gesetzt, die gesamte Stadtregion zu qualifizieren – Downtown und Suburbia, nicht Downtown oder Suburbia. Ziel ist die Qualifizierung der Regional City.

Literatur und Webseiten:

Die alte Stadt 4/1998 (Themenheft: Alte Stadt – neu gebaut, mit der Dokumentation der „Charta des New Urbanism von 1996)
Bodenschatz, H.: New Urbanism. Die Neuerfindung der amerikanischen Stadt. In: Stadtbauwelt 145/2000
Bodenschatz, H.: Europäische Stadt, Zwischenstadt und New Urbanism. In: Planerin 3/2001
Bodenschatz, H.: New Urbanism – Städtebaureform in den USA / New Urbanism – Urban Development Reform in the U. S. In: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.): 2001. 2002. Bau und Raum Jahrbuch. / Building and Regions Annual. Tübingen 2002
Bodenschatz, H.: Strategien zur Revitalisierung, in: Planerin 1/2002
Bodenschatz, H.; Kegler, H.: Städtebaureform auf Amerikanisch, in: Stadtbauwelt 145/2000
Congress for the New Urbanism: Charter of the New Urbanism. New York u.a. 1999
Calthorpe, P.; Fulton, W.: The Regional City, Washington/Covelo/London 2001
Duany, A., Plater-Zyberk, E., Speck, J.: Suburban Nation. New York 2000
Dutton, John A.: New American Urbanism. Milano 2000
Harvard Design Magazin Winter/Spring 1997 (Kritische Debatte über den New Urbanism)
Kegler, H. (1998): Mehr als nur die Sehnsucht nach der alten Stadt: New Urbanism in den USA. In: Die alte Stadt 4/1998
Kegler, H.; Lenz, G.; Duhm, B.: Industrie-Region. In: Stiftung Bauhaus Dessau (Hrsg.): Industrielles Gartenreich. Dessau 1996
New Urbanism makes inroads in Germany (Interview mit Bodenschatz, H. und Kegler, H.). In: New Urban News April/May 2002
Stadtbauwelt 145/2000 (Themenheft zum New Urbanism)

Congress for the New Urbanism – CNU: www.cnu.org
Planungsbüro von A. Duany und E. Plater-Zyberk: www.dpz.com
Planungsbüro von P. Calthorpe: www.calthorpe.com
HOPE VI Programm: www.hud.gov/budget99/facthope.cfm
Regionalstrategie „Industrielles Gartenreich“: www.industrielles-gartenreich.de
Planungsinstrument Charrette: www.charretteinstitute.org

Abbildungen:

Seaside prägt bis heute das Bild des New Urbanism in Deutschland – und zwar negativ

Ein positives Referenzmodell des regionalen New Urbanism: der Regionalplan von New York, New York Map, 1995 (Ausschnitt)

Die Region Portland mit eingezeichneter Wachstumsgrenze Plan UGB (Ausschnitt)

Ein Beispiel für Transit Oriented Development (TOD): Orenco Station in der Region Portland

Teilprojekt der regionalen Entwicklungsstrategie „Industrielles Gartenreich“: Masterplan Bitterfeld (Sachsen-Anhalt) 1995

Ein Projekt mit kleinräumigem, städtischer und regionalem Horizont: Masterplan Eggesin (Mecklenburg Vorpommern) 2002

Ein Planungsinstrument des New Urbanism im „Industriellen Gartenreich“: Charrette-Verfahren – in Gräfenhainichen (Sachen-Anhalt) 2002

Autoren:

Harald Bodenschatz, geb. 1946, Stadtplaner und Soziologe, Professor für Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin, Studienaufenthalte in den USA 1999 und 2000. harald.bodenschatz@nullt-online.de.

Harald Kegler, geb. 1957, Stadtplaner, 1987-1999 Leiter der experimentellen Werkstatt am Bauhaus Dessau mit den Hauptarbeitsfeldern Industrielles Gartenreich, Stadt- und Regionalumbau sowie Planungsgeschichte, 1999-2000 Gastprofesssor an der University of Miami, seit 2000 eigenes Büro Labor für Regionalplanung. harald_kegler@nullyahoo.com.

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